28.09.2019
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Zitat:
«Lieber stehe ich für ein Billett an der Kasse an»
Mario Raimondi (38) kennt als Spieler beide Seiten: Thun und YB. Sein Besuch beim Derby ist noch ungewiss.
Sie scheinen kein Mitleid mit Ihrem früheren Club,dem FC Thun, zu haben.
Wieso meinen Sie?
Kürzlich besiegten Sie als U-15-Coach bei YB die Thuner 9:1.
Auf dieser Stufe können die Unterschiede riesig sein. Manche Jungs sind ausgewachsen, entsprechend kräftig, andere noch dünn und klein. So kommen die krassen Resultate zustande.
Wie erging es Ihnen in diesem Spiel an der Seitenlinie?
Es machte keinen Spass. In solchen Momenten ziehe ich mich auf die Bank zurück. In diesem Alter sollen nicht Ergebnisse im Fokus stehen, sondern die Weiterentwicklung und Freude am Fussball. Auch die Jungs haben mehr Spass an engen Partien.
Sie sagten einst, Sie möchten mal auf höchster Stufe trainieren. Besteht dieses Ziel noch?
Ich weiss es nicht. Ich absolviere derzeit das A-Diplom, am Montag stehen die Schlussprüfungen an. Aber ich handhabe es wie als Spieler, schaue nicht weit voraus. Es bereitet mir Riesenspass,im Nachwuchs zu arbeiten, ich kann mir vorstellen, das lange zumachen. Ich suchte schon als Spieler nicht die grosse Bühne.
Vermissen Sie manchmal das Leben als Profifussballer?
Das erste Jahr war schwierig, da dachte ich an Spieltagen oft: Es wäre cool, dabei zu sein. Ab dem zweiten Jahr wurde es besser, mittlerweile bin ich sehr froh, wie es gekommen ist.
Dann kribbelt es nicht, wenn Sie den derzeitigen Höhenflug der Young Boys miterleben?
Nein. Aber ich freue mich enorm für YB. Die Erfolge sind hochverdient, seit Jahren wird gute Arbeit geleistet, jetzt erhält der Club den Lohn. Es ist wirklich so: «Irgendeinisch fingt ds Glück eim.»
Verfolgen Sie die Spiele live?
Wenn es geht, ja. Aber ich bin mit meiner Mannschaft an den Wochenenden fast immer unterwegs, habe zudem eine Familie mit zwei Söhnen, die auch mit ihrem Vater spielen wollen. Aber sie sind schon angefressene YB-Fans, kommen gerne ins Stadion.
Färben die Erfolge auf den Nachwuchs ab? Sprich: Gehen Ihre U-15-Spieler mit anderem Selbstverständnis ans Werk?
Man merkt, dass sich etwas verändert hat: YB ist nicht mehr der ewige Zweite. Die Spieler werden von den Gegnern anders wahrgenommen. Und sie spüren es, wenn sie mit der YB-Trainerjacke durch die Stadt spazieren. Sie sind Spieler des Meisters. Das wirkt sich aufs Selbstvertrauen aus. Zumal der Weg zu den Profis nicht mehr allzu weit ist.
Sie schafften bei Thun 1999 in der NLB den Sprung ins Profitum. Die Erinnerungen daran?
Es war eine unvergessliche Zeit. Wir hatten ein Superteam mit unglaublichem Zusammenhalt. Nach dem Training waren kaum fünf Minuten vergangen, da sassen wir schon zusammen. Das brauchte es auch, sonst wäre der Aufstieg nicht möglich gewesen.
Diese Zeit war der Grundstein für den heutigen FC Thun.
Ohne Hanspeter Latour wäre das alles nicht zustande gekommen. Wir mussten damals bei null anfangen. Ich weiss noch, wie er vor uns stand und sagte: «Wir wollen aufsteigen.» Das schien sehr unrealistisch, aber Latour vermittelte uns irgendwie, dass es machbar ist, wenn auch riskant.
Wie meinen Sie das?
Latour sagte, wer aufsteigen wolle, brauche einen Profibetrieb. Aber mit dem, was wir vom Club erhielten, kamen wir nie und nimmer auf einen grünen Zweig. Ich lebte deshalb bei den Eltern.
Das wäre heute in Thun unvorstellbar.
Wir waren junge Giele aus der Region, Marc Schneider war auch dabei. Und Latour holte nach und nach Spieler, die bei ihren Clubs nicht oft zum Einsatz kamen: Gerber, Renggli, Cerrone. Plötzlich spürten wir: Da liegt etwas drin. Es entwickelte sich eine Dynamik, die uns bis in die Champions League führte.
War das Ihre schönste Zeit als Profifussballer?
So weit würde ich nicht gehen. Aber ich spürte ein unglaubliches Vertrauen, Latour hatte nur uns. Er musste mit uns arbeiten, Angst, dass wir den Platz im Team verlieren könnten, kannten wir keine. Und wir merkten: Mit Disziplin, Arbeit, Glauben, Geduld lässt sich Grosses erreichen.
Hat Ihnen diese Erkenntnis den Weg zur Karriere geebnet?
Die Zeit unter Latour hat mich fürs Leben geprägt. Noch heute denke ich ab und zu an ihn, an seine Worte. Manchmal verstehe ich erst jetzt, was er uns eigentlich sagen wollte.
Schneider ist Trainer in Thun, Gerber der Sportchef. Und mit YB-Sportchef Spycher haben Sie in Bern zusammengespielt. Wie ergeht es Ihnen, wenn Sie deren Wege verfolgen?
Ich hoffe, jeder ist glücklich mit seinem Job, so wie ich das bin. Manchmal kommt mir ein Name eines früheren Mitspielers in den Sinn, dann versuche ich im Internet zu recherchieren, was aus ihm geworden ist. Den Kontakt mit einstigen Teamkollegenzu pflegen, wäre für mich der einzige Grund, einen Facebook-Account zu eröffnen. Aber bisher wich ich dem aus.
Welche Entwicklung hat Sie am meisten erstaunt?
(Überlegt) Das wird Marc Schneider sein. Er ist ein Supertyp, einfach und unkompliziert. Und er hat schon als Spieler wie ein Trainer gedacht. Aber dass es so schnell geht? Dass er nun in Thun an der Seitenlinie steht, ist bemerkenswert. Ich gönne es ihm.
Sie spielten gemeinsam in Thun, Zürich und bei YB. Wie halten Sie heute Kontakt?
Er ist nicht mehr ausgeprägt, ab und zu schreiben wir uns eine SMS. Das gehört zum Geschäft. Mit Ronny Hodel etwa war ich bei YB sehr gut befreundet, heute haben wir selten Kontakt.
Wie erleben Sie die Arbeit von YB-Sportchef Spycher?
Es überrascht mich nicht, dass es so gut läuft. YB kann sich glücklich schätzen, «Wuschu» ist eine Champions-League-Lösung.
Inwiefern?
Er hat Erfahrung als Spieler und Talentmanager, kennt den Fussball in- und auswendig. Aber er ist vor allem ein guter Mensch, bodenständig und natürlich. Das gibt es in diesem Geschäft nicht oft. Ich hoffe für YB, dass er den Job noch lange macht.
YB ist ungeschlagen Erster, dahinter folgt schon Thun. Wie beurteilen Sie die Oberländer?
Wie bei YB kommt auch in Thun der Erfolg nicht von ungefähr. Es wird seriös und bodenständig gearbeitet. Der Club ist ein Beispiel dafür, was sich erreichen lässt, wenn in der Führung fähige Leute am Werk sind.
Erster gegen Zweiter, das Derby am Samstag in Thun verspricht viel. Werden Sie dabei sein?
Ich möchte. Aber wir spielen am frühen Nachmittag in Lausanne, es wird eng. Es dürfte schwierig werden, ein Ticket zu ergattern.
Ein Anruf von Ihnen in Thun sollte doch genügen?
So einer bin ich eben nicht,ich würde mich unwohl fühlen dabei. Lieber stehe ich gewöhnlich an der Kasse an.
Zur Person
Mario Raimondi war vor 20 Jahren dabei, als beim FC Thun die Basis für die heutigen Erfolge gelegt wurde. Unter Hanspeter Latour stieg er 2002 mit den Oberländern auf und wechselte zum FC Zürich. Nach einer durchzogenen Saison ging er zurück nach Thun, 2005 landete er bei den Young Boys. Nach 8 Jahren in Bern bestritt er 2013 im Derby bei Thun seine letzte von 312 Partien in der Super League. Raimondi, am 10. Juli 1980 geboren, wohnt mit Frau und Kindern in Heimberg. Seit 2013 ist er als Trainer im YB-Nachwuchs tätig und absolviert die Prüfungen zum A-Diplom.
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