01.10.2022
Zitat:
«Hoffe, dass ich bleiben darf»
Wie sich Kevin Rüegg bei YB beweisen will
Mit 20 war er Super-League-Captain, danach anderthalb Jahre Ersatzspieler: In Bern will der Verteidiger seine Karriere neu lancieren.
Kevin Rüegg lässt sich nicht so schnell aus der Fassung bringen, er lacht auch die Sprüche seiner Teamkollegen locker weg, die nach dem Training in den Katakomben des Wankdorf an ihm vorbeigehen, während er das Interview führt. Ohnehin lacht er gern, «über jeden Mist», wie er sagt. Erst als David von Ballmoos und Filip Ugrinic durch die Tür spazieren, wird er ganz kurz unruhig. «Wo gehen sie hin?», fragt er vor sich hin, winkt dann aber ab – er klärt das später. Es hat sich so ergeben, dass einige YB-Spieler nach dem Morgentraining zusammen Mittagessen gehen, das Teilnehmerfeld wechselt, Rüegg ist aber immer mit dabei. Er geniesst das. Es tut ihm gut, nachdem er zwei schwierige Jahre hinter sich hat.
22 ist Rüegg, als er sich im Sommer 2020 dazu entscheidet, zu Hellas Verona zu wechseln. Er ist jung, aber erfahren, immerhin hat er bis dahin 107 Spiele für den FC Zürich bestritten, 19 davon als Captain, der Auslandtransfer scheint ein logischer nächster Schritt für den Rechtsverteidiger. Lange überlegen muss er damals nicht, einen Tag nach der konkreten Anfrage reist er mit Berater Philipp Degen nach Italien, einen weiteren Tag später gibt Rüegg die Zusage. «Manchmal hilft es, sich nicht unnötig lange den Kopf zu zerbrechen», findet er.
Die Intensität bereitet ihm Mühe
Es scheint auch Sinn zu ergeben, obwohl Rüegg einst sagte, die Premier League sei sein Traum, die Bundesliga das Ziel. Aber auch die Serie A hat ihren Reiz, dort könnte er zu diesem Zeitpunkt auf Cristiano Ronaldo treffen, auf ihn freut er sich ebenso wie auf Zlatan Ibrahimovic. Zudem soll Verona eine schöne Stadt sein, die viel zu bieten hat. Historische Sehenswürdigkeiten und natürlich die Casa di Giulietta, dem Schauplatz von Shakespeares «Romeo und Julia».
Das hat Rüegg auch gehört, viel davon gesehen hat er aber nicht – zumindest in der Anfangsphase. Viel zu kaputt ist er nach den Trainings, die von viel höherer Intensität geprägt sind, als er es gewohnt ist. Dabei vermittelt ihm der damalige Trainer Ivan Juric noch ein gutes Gefühl, indem er sagt, Rüegg habe aufgrund der absolvierten Sommervorbereitung beim FCZ sicher einen körperlichen Vorsprung gegenüber dem Rest des Teams, der nach den Ferien eben erst wieder eingestiegen ist. «Doch nach dem Training lag ich nur noch am Boden und rang nach Luft», erzählt er. Heute kann er herzhaft darüber lachen.
Weniger witzig verläuft die Zeit danach, obwohl er im ersten Ligaspiel gegen die AS Roma eingewechselt wird, dabei eine gute Leistung zeigt. Dennoch sitzt er die kommenden Wochen nur auf der Bank, offenbar macht Konkurrent Davide Faraoni seine Sache noch besser.
Erst Ende Oktober kommt Rüegg wieder zum Einsatz, im Cup gegen Venezia, drei Tage nachdem er die Enttäuschung verarbeiten musste, gegen Juventus Turin und Cristiano Ronaldo 90 Minuten auf der Bank gesessen zu haben. Rüegg aber kommt rasch darüber hinweg, zeigt 79 Minuten lang eine gute Leistung. Und dann, endlich, kommt seine Chance in der Liga. Im Heimspiel gegen Benevento soll er von Beginn an auflaufen, dies versichert ihm Juric. Auch weil Faraoni verletzt ausfällt.
Die Vorfreude ist gross, die darauffolgende Enttäuschung noch grösser. Im dümmsten Moment verletzt sich Rüegg am Oberschenkel, fast einen Monat fällt er aus. «Wer weiss, was passiert wäre, wenn ich damals meine Chance genutzt hätte», sagt er nun. In der Stimme des heute 24-Jährigen ist kein Groll herauszuhören, Rüegg ist ein optimistischer Mensch. Dass er in Verona mehrfach von Blessuren zurückgeworfen wird, sieht er als Anlass, sich zu hinterfragen, eine Massnahme ist, seine Ernährung umzustellen. «Ich habe einen grossen Magen», erklärt er lachend. Abends isst er nun weniger, mittags dafür mehr. Und am Morgen gibt es einen Shake mit Haferflocken, daran muss er sich noch etwas gewöhnen. Um den Prozess etwas zu erleichtern, versüsst er das Getränk mit Kokosmilch.
Er kennt das Gefühl, sich beweisen zu müssen
Sportlich aber bleibt es eine bittere Zeit, weshalb Rüegg im Sommer 2021 erstmals einen Ausweg sucht. Es gibt Angebote, beispielsweise von einem schottischen Spitzenclub und einem deutschen Traditionsverein, doch Verona stellt sich quer. Er sei zu wichtig, heisst es.
Also probiert er sich beim neuen Trainer Eusebio Di Francesco aufzudrängen, ohnehin kennt Rüegg das Gefühl, den Leuten etwas beweisen zu müssen, das war damals in Nänikon, einem kleinen Dorf im Kanton Zürich, schon so. Vielleicht wollten sie den Kleinen einfach nicht mitspielen lassen, vielleicht lag es auch an seinen Wurzeln, aber der Sohn eines Schweizers und einer Kamerunerin wurde immer zunächst abgewiesen, musste oft allein Fussball spielen. Ein kurzer Blick auf seine Ballbehandlung reichte dann aber – und schon wurde er doch noch dazugeholt. Noch heute findet er es bemerkenswert, wie schnell sportliches Talent zu Akzeptanz führt.
Bei Verona kämpft er aber vergebens, weder Di Francesco noch dessen Nachfolger Igor Tudor finden Verwendung für den Rechtsverteidiger, also folgt im Winter 2022 die Ausleihe zu Lugano. Dort tankt Rüegg neues Selbstvertrauen und sieht, dass die Drohung seines ersten Trainers bei Hellas tatsächlich Wirkung zeigte: «Er sagte allen Neuen, wer in zwei Monaten kein Italienisch spricht, kann gleich wieder gehen.» Erst als Rüegg den Tessiner Journalisten auf Italienisch Interviews gibt, merkt er, wie gut er es eigentlich spricht.
Das Gespräch mit Spycher imponiert ihm
Schon damals gibt es erste Kontakte zu YB, es sollte dann aber erst im Sommer klappen. Eine Leihe mit Kaufoption, die zur Pflicht wird, sollten die Berner Schweizer Meister werden. Er sagt: «Ich hoffe, dass ich hier bleiben darf.» In einen moralischen Clinch kam er nie, weil sich Jugendclub FCZ nie um seine Rückkehr bemühte.
Ihm imponiert vor allem, wie sehr die Young Boys um ihn werben. Das Facetime-Gespräch mit Christoph Spycher, in dem ihm erklärt wurde, was YB mit ihm vorhat, so etwas hatte er noch nie erlebt.
Es ist offenbar eine gute Wahl, in zwei Monaten kommt der letztjährige Captain des Schweizer U-21-Nationalteams hier trotz zwischenzeitlicher Verletzung auf gleich viele Einsätze (neun), wie in anderthalb Jahren Verona. Die Spielminuten sollen ihm helfen, wieder die beste Version seiner selbst zu werden. «Alles gut, die finde ich schon», sagt Rüegg, damit meint er aber nicht seine Bestform, sondern die Teamkollegen. Das gemeinsame Mittagessen steht an, er freut sich darauf – wie jeden Tag.
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