Das meint der Bund dazu 15.5.2004
Schritt an den Rand Afrikas
Das Fifa-Exekutivkomitee entscheidet heute über den Austragungsort der Fussball-Weltmeisterschaft 2010
Eines steht schon vor der heutigen Vergabe der Fussball-Weltmeisterschaft 2010 fest: Sie wird erstmals in Afrika stattfinden. Das Fifa-Exekutivkomitee hat diesen Vorentscheid nach der Wahl Deutschlands als Ausrichter der WM 2006 gefällt.
Christian dick
Die Fussball-Europameisterschaft steht vor der Tür und wird in den kommenden Wochen alle anderen Sportveranstaltungen und einiges mehr in den Schatten stellen. Heute steht jedoch ein Ereignis bevor, das für die Geschichte des Fussballs eine weitaus grössere Bedeutung hat als die EM 2004. Denn mit der WM 2010 wird erstmals der noch vor den Olympischen Spielen bedeutendste und grösste Sportanlass der Welt nach Afrika vergeben.
Wohin nach Afrika, wird man heute erfahren. Klar ist jedoch: Beim ersten Schritt auf den Schwarzen Kontinent wagt sich der Weltfussball nur an dessen Rand. Marokko, bloss durch 13 Kilometer Wasser von Europa getrennt, Tunesien, Libyen und Ägypten grenzen ans Mittelmeer. Der mehrheitlich favorisierte Kandidat Südafrika ist geografisch ebenfalls eine Randerscheinung und auch sonst kein typisch afrikanisches Land.
Die Wahl von heute ist eine erste Annäherung. Mehr als dieser Schritt wäre nicht zu verantworten, denn bezüglich Infrastruktur (Stadien, Hotels, Verkehrsverbindungen, Sicherheit usw.) ist die grosse Mehrheit der afrikanischen Länder weit davon entfernt, die Ansprüche einer Fussball-Weltmeisterschaft zu erfüllen. Dass es zu diesem ersten, historisch bedeutenden Schritt kommt, ist am 6. Juli 2000 bei der Vergabe der WM 2006 vorbestimmt worden.
Blatters Niederlage
Fifa-Präsident Joseph Blatter hatte die Absicht, die WM nach Afrika zu führen, schon längst zur Chefsache erklärt und sich damals konkret für die Kandidatur Südafrikas stark gemacht. Marokko (bereits zum dritten Mal) und England waren in jener Wahl vom 6. Juli bereits ausgeschieden. Es kam zum Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Deutschland und Südafrika, welches indirekt der Neuseeländer Charles Dempsey entschied. Das Mitglied des 24-köpfigen Exekutivrats hätte nach dem Ausscheiden Englands aufgrund von Absprachen Südafrika unterstützen sollen, enthielt sich jedoch im dritten Wahlgang der Stimme. Deutschland siegte mit 12:11 und bescherte Blatter, der den Stichentscheid gehabt hätte, eine bittere Niederlage.
2014 in Südamerika
Wie immer nach Wahlen in den höchsten Sportgremien, sei es im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) oder beim Fussball-Weltverband (Fifa), kamen Spekulationen über Filz und Bestechung auf, die nur in seltensten Fällen handfest bewiesen wurden. Klar und schnell aber zeichnete sich die Konsequenz der Wahl Deutschlands ab. Die Katerstimmung am Kap, vor allem aber jene hinter Blatters Fassade, führte zur vom Präsidenten lancierten Modusänderung bei WM-Kandidaturen.
Blatter setzte das Rotationsprinzip der WM von Kontinent zu Kontinent durch – allerdings mit Einschränkung. Der Beschluss galt rückwirkend auf die Vergabe der WM 2002. Nach Asien (2002 Japan/Südkorea), Europa (2006 Deutschland) und Afrika (2010) wird 2014 Südamerika zum Zug kommen. Wie es danach weitergeht, hat die Fifa noch nicht beschlossen.
Südafrika und Marokko
Allgemein gilt Südafrika – nicht zuletzt, weil es der wirtschaftlich stärkste Kandidat ist – vor der heutigen Wahl als Favorit. Dazu kommt der Vorteil, nicht zum arabischen Krisenherd zu gehören. Demgegenüber steht Marokkos Nähe zu Europa, die wirtschaftliche Interessen weckt, und die Tatsache, dass sich das Königreich bereits zum vierten Mal für die Durchführung einer WM bewirbt. Wenig Chancen werden den andern Kandidaturen eingeräumt.
Tunesiens später Rückzug
Minuten vor der letzten Präsentation hat Tunesiens Bewerbungskomitee am Freitagnachmittag seine Kandidatur für die Durchführung der WM-Endrunde 2010 zurückgenommen. Somit buhlen noch Ägypten, Libyen, Marokko und Südafrika um den heutigen Zuschlag.
Was sich bereits in den letzten Tagen angekündigt hatte und von Fifa-Präsident Joseph Blatter vor einer Woche angedeutet worden war, wurde im Fifa-Hauptsitz in Zürich offiziell bestätigt: Der tunesische Verbandspräsident Hamouda Ben Ammar verkündete den 24 Exekutivmitgliedern der Fifa, dass Tunesien nach vier Jahren des Werbens, Planens und Investierens auf eine weitere Kandidatur verzichtet.
Ghadhafis Geheimnis
Ben Ammar bezog sich bei seinem späten Rückzug auf die Äusserung Blatters, dass eine Doppelkandidatur gemäss Fifa-Statuten nur möglich sei, wenn keine valablen Kandidaturen vorhanden sind, welche die WM-Endrunde alleine durchführen könnten. Weil Ägypten, Marokko und Südafrika von der Fifa-Inspektionsgruppe das Potenzial zugestanden worden ist, eine WM in Eigenregie zu organisieren, war Tunesiens Doppelkandidatur zusammen mit Libyen aussichtslos geworden.
Die Libyer präsentierten in der Folge eine Einzelbewerbung, die sich im Wesentlichen auf Planspiele abstützte. Wie Revolutionsführer Moammer al-Ghadhafi in sechs Jahren alle versprochenen Stadien, Hotel- und Verkehrs-Infrastrukturen realisieren könnte, bleibt sein Geheimnis.
Ob die beiden favorisierten Bewerber Marokko und Südafrika die Exekutivmitglieder mit wenig einfallsreichen Präsentationen auf ihre Seite ziehen konnten, wird sich am Samstagmittag weisen, wenn auf dem Zürcher Sonnenberg zur geheimen Wahl geschritten wird.
Die Marokkaner betonten ihre Nähe zu Europa, was kurze Wege für Offizielle, Spieler und Fans bedeute. Sie versuchten zudem beim Wahlgremium die Sicherheitsbedenken zu zerstreuen und setzten auf ihre fussballerischen Verdienste, welche einen Zuschlag im vierten Versuch verdienen würden. Marokko war 1970 das erste afrikanische Team an einer WM-Endrunde, schaffte es 1986 als erstes afrikanisches Land in die zweite Runde und stellte 1998 den ersten afrikanischen Schiedsrichter in einem WM-Final.
Südafrika setzte auf seine berühmten Politiker, Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela und Staatspräsident Thabo Mbeki, die eigens nach Zürich gereist waren, um mit eindringlichen Reden auf die Wähler einzuwirken. In den Filmvorführungen wurde auf das typische Afrika mit den Wildtieren und auf das Nebeneinanderleben von Schwarz und Weiss gesetzt. Sind seine sportlichen Meriten eher unbedeutend, so beeindruckte Südafrika in den letzten zehn Jahren seit dem Ende der Apartheid mit der Organisation von zahlreichen Grossanlässen in Sport, Wirtschaft und Politik.
Sharifs Unterstützung
Als lachender Dritter aus dem Duell zwischen Marokko und Südafrika möchte Ägypten hervorgehen. Das Riesenland am Nil zählt in seinem Bewerbungskomitee auf Schauspieler Omar Sharif und betonte in der letzten, sympathischen Präsentation seine Stärken. 70 Millionen Einwohner garantieren volle Stadien und Kassen. Vier Siege im Afrika-Cup deuten die fussballerische Stärke an, und die alljährlich hohe Zahl an Touristen bezeugt, dass Verkehrs-, Telekommunikations- und Hotelinfrastruktur bereits in ausreichender Qualität vorhanden ist. (siz)
Die Kandidaten-LÄnder
Ägypten
Fläche: 1 Million km2 Bevölkerung: 70,3 Millionen
Hauptstadt: Kairo (16 Mio Einw.)
Präsident: Hosni Mubarak
Sprache: Arabisch
Gründungsdatum des Fussball-Verbandes: 1921, 542 Vereine, 272 472 gemeldete Fussballer
Fifa-Beitritt: 1923
Libyen
Fläche: 1,795 Millionen km2 Bevölkerung: 5,5 Millionen
Hauptstadt: Tripolis (1,8 Mio Einw.) Staatschef: Moammer al-Ghadhafi
Sprache: Arabisch
Gründungsdatum des Fussball-Verbandes: 1962, 100 Vereine, 29 700 gemeldete Fussballer
Fifa-Beitritt: 1963
Marokko
Fläche: 446 550 km2
Bevölkerung: 31 Millionen Hauptstadt: Rabat (1,4 Mio Einw.)
Staatsoberhaupt: König Mohamed VI. Sprachen: Arabisch, Französisch Gründungsdatum des Fussball-Verbandes: 1955, 400 Vereine, 260 964 gemeldete Fussballer
Fifa-Beitritt: 1956
Südafrika
Fläche: 1,22 Millionen km2 Bevölkerung: 44,2 Millionen
Hauptstadt: Pretoria (1,3 Mio Einw.) Präsident: Thabo Mbeki
Sprachen: Afrikaans, Englisch und neun weitere offizielle Sprachen
Gründungsdatum des Fussball-Verbandes: 1892, Neugründung 1991, 1500 Vereine, 524 700 gemeldete Fussballer
Fifa-Mitglied seit 1952, Ausschluss 1964, Wiederaufnahme 1992
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